Rocken am Brocken 2022: Von alten Bekannten und vielen Neuentdeckungen

Über den musikalischen Tellerrand hinaus

Dass das Rocken im Festivalnamen keine Genre-Beschränkung darstellt, hat das Booking in den vergangenen Jahren immer wieder bewiesen. Der Freitag bot mit Nina Chuba und Paula Hartmann gleich zwei junge Rapperinnen auf, die erst am Anfang ihrer Karriere stehen, aber schon in aller Munde sind. Insbesondere letztere machte mit einer leidenschaftlichen und stimmgewaltigen Performance auf sich aufmerksam. Die 21-jährige Berlinerin wusste mit Songs wie Kein Happy End (in der Studioversion mit Casper-Feature) oder dem Titeltrack ihres Debütalbums Nie verliebt das Publikum schnell zu überzeugen.

Vielfalt muss sich im Line-Up widerspiegeln, das ist erklärte Absicht. Nina und Lotta Kummer von Blond brachten dies am Freitagabend mit ihrem Song Thorsten pointiert und gleichzeitig schmerzlich realitätsnah zum Ausdruck, was der Alltag als Musikerin in der männlich geprägten Branche mit sich bringt. Zuvor hatte Frank Carter bereits angedeutet, dass dabei das Mitwirken aller gefragt ist. Der britische Sänger, der mit seiner Band The Rattlesnakes an diesem Abend Headliner war, stellte in seinen Ansagen klar, dass übergriffiges Verhalten hier nicht geduldet werden würde. Zu oft würde das dichte Gedränge im Publikum noch immer für unerwünschte Berührungen ausgenutzt. Außerdem warb er für einen rücksichtsvolleren Umgang miteinander beim Pogen und rief für den Song Wild Flowers die Männer auf, buchstäblich Raum zu geben und dem Moshpit einmal komplett fern zu bleiben. Ein Punkrock-Konzert, das jede*r in vollen Zügen genießen können sollte.

Sänger Frank Carter beim Crowdsurfen
Frank Carter mit dem Bad in der Menge (Foto: Sven Morgenstern)

Endspurt am Samstag

Auch der Samstag lockte mit einem vielseitigen Programm. Die Münchener Newcomerin MOLA lieferte am Nachmittag mit ihrem melancholischen Sprechgesang einen schönen Start. Der Publikumsmagnet am frühen Abend hieß jedoch Provinz. Deutschsprachiger Indie-Pop erlebt eine neue Hochphase und zu dessen gefragtesten Aushängeschildern zählen derzeit auch die vier Jungs aus Süddeutschland. Für stilistische Abwechslung sorgte danach Alice Phoebe Lou auf der zweiten Bühne, genannt Sternwarte, wo die Wahl-Berlinerin eine Verbindung aus Soul und Folk mit musikalischen Elementen ihrer südafrikanischen Heimat präsentierte.

Ein Kontrastprogramm erwartete uns dann auf der Hauptbühne, wo shame angesetzt waren. Die britische Post-Punk-Band zählte im Vorfeld zu den von uns am freudigsten erwarteten Buchungen, fiel sie für dieses Festival doch eher aus der Reihe. Viele teilten unsere Meinung augenscheinlich nicht, denn vor der Bühne war eher wenig los. Auf der Bühne wurde nichtsdestotrotz ein energiegeladener Auftritt abgeliefert. Raue Gitarren paarten sich mit der von Sänger Charlie Steen kreierten Atmosphäre, die das Attribut nasty vermutlich am treffendsten einfängt. Trotz stetigem Zuwachs über den Verlauf des Sets, waren sich alle am Moshpit beteiligten Personen am Ende des Konzerts persönlich gut bekannt. Das wohlwollende Prädikat „mutige Buchung“ muss an dieser Stelle leider bemüht werden. Auch wenn die Band bei vielen nicht gezündet hat bedanken wir uns für ein Highlight des Festivals!

Nostalgie und große Gefühle

Arnim Teutoburg-Weiß an der Gitarre
Ungewohnte Gitarrenhaltung: Linkshänder Arnim Teutoburg-Weiß von den Beatsteaks (Foto: Sven Morgenstern)

Den Abschluss der Hauptbühne lieferten an diesem Abend die Beatsteaks. Ein Name, der bei einigen im Publikum unweigerlich Assoziationen an MTV-Musikfernsehen, Jugendzimmer-Flair und legendäre Live-Auftritte ausgelöst haben dürfte. Eine Band dieser Größenordnung ist am Brocken keine Selbstverständlichkeit. Das Festivalteam beglückte damit nicht nur sein Publikum, sondern erfüllte auch sich selbst einen lang gehegten Traum. Entsprechend traf der Gig auch einen ganz besonderen, nostalgischen Nerv. Die Setlist ließ keine Wünsche offen und deckte die langjährige Schaffenszeit der Berliner wunderbar ab. Die Chemie zwischen Band und Publikum wirkte von Anfang an angenehm vertraut. Unsere Herzen sollte an diesem Abend aber noch jemand anderes erobern: Denn was könnte das Schwelgen von der alten Jugendliebe besser aufgreifen und abrunden, als die gefühlsseligen Kompositionen von Roy Bianco & Die Abbrunzati Boys?

Roy Bianco & Die Abbrunzati Boys
Roy Bianco (links) & Die Abbrunzati Boys (rechts) (Foto: Sven Morgenstern)

Nahaufnahme Rocken am Brocken Festivalpublikum
Der Moment, wenn einen der Italo-Schlager packt (Foto: Sven Morgenstern)

Die ersten Takte verdrängten sofort die kalte Nachtluft und für die nächsten 60 Minuten sollten Rimini und Ravenna näher wirken als Braunlage oder Wernigerode. Mit ihrer überraschenden Reunion brachte die Kapelle um Sänger Roy Bianco den Italo-Schlager wieder zurück auf die Landkarte – und in unsere Herzen. Überschwänglich lag sich das Publikum in den Armen und zelebrierte die größten Hits (Ponte di Rialto, Bella Napoli, Quanto Costa uvm.) aus 40 Jahren Bandgeschichte. Wir sind einmal mehr verzaubert von der wohl größten Comeback-Sensation seit Fraktus.

So neigte sich ein weiteres Wochenende im Harz viel zu schnell dem Ende entgegen und wir zählen schon die Tage bis zur nächsten Ausgabe!

TFr