Donnerstag – Tag 2
Erstaunlich und erfreulich, wie viele Leute fröhlich klingelnd mit dem Fahrrad das Festivalgelände aufsuchen. Und das schon so zeitig! Bereits früh um 10 Uhr steht vor dem Wellenbrecher der Orange Stage eine unfassbar lange Menschenschlange. Was es wohl damit auf sich hat? Wellenbrechercamper werden es wohl nicht sein, werden doch die vorderen Bereiche zwischen den Konzerten immer komplett leergeräumt.
Nach einer gepflegten Runde Hardcore-Punk von Soul Glo zum Wachwerden komme ich am Nachmittag problemlos vor den ersten Wellenbrecher, wo zuvor noch hunderte Leute anstanden. Pünktlich zum Beginn von Tove Lo, die ab dem ersten Song sogleich Vollgas gibt und bestens aufgelegt über die Bühne huscht. Auch wenn ich kaum mit ihrem Oeuvre vertraut bin, kann ich mein Glück kaum fassen: Es ist unfassbar, wie textsicher und ansteckend ekstatisch dieses Publikum ist! Jeder meiner Blickkontakte mit den Leuten um mich herum wird mit dem breitestmöglichen Lächeln quittiert, sodass ich mich fast schäme, keinen Song der charismatischen Discopop-Sängerin mitsingen zu können, wie es alle anderen tun. Hausaufgabe für mich: Tove Lo-Alben nachholen! Auch wenn es zu Hause garantiert nicht so kickt wie dieses Live-Erlebnis.
Bleiben wir beim Pop: Auch das Werk von Rina Sawayama ist mir bis dato wenig vertraut. Da mir jedoch gut unterrichtete Kreise gesteckt haben, dass sich ein Konzert definitiv lohnt, bin ich sogleich zur Arena gewetzt, um den Beginn nicht zu verpassen. Erneut finde ich ein Publikum vor, das komplett aus dem Häuschen ist, als Rina mit riesigen Gesten und großen Emotionen purstes Popspektakel präsentiert. Bei dieser aufwendig choreografierten und enorm unterhaltsamen Show wird die Arena-Stage zur Kathedrale und der Gig zu einer Messe. So viel gebündelte Euphorie auf einmal – keine Ahnung wann ich das zuletzt erlebt habe. Ach ja richtig, eine Stunde zuvor bei Tove Lo. Spätestens nach diesem Auftritt manifestiert sich die Arena zu einer meiner Lieblingsbühnen auf dem Festival. Und meine Hausaufgabenliste wächst weiter an.
Ob der Headliner-Auftritt von Lil Nas X das wohl noch toppen kann? Ich laufe gespannt zurück zur Orange Stage, doch erfahre dort, dass der vordere Wellenbrecher dicht ist. Dafür standen sich die Leute heute Morgen also die Beine in den Bauch. Kein Problem, denn selbst hinter dem ersten Wellenbrecher, wo ich kurz vor Konzertbeginn einen guten Platz ergattern kann, ist die Stimmung fantastisch. Ein bisschen schade, dass ich dafür den Auftritt der Stoner-Rock-Legenden Electric Wizard sausen lasse, aber das war es wert. Mehr als stabiler Live-Auftritt, inklusive Bierdusche.
Die Abendsonne ist mittlerweile verschwunden. Zeit, die Apollo-Stage zu erkunden, wo der Schwerpunkt auf elektronischer Musik liegt. Gitarrenmusik kommt in diesem Line Up generell etwas kurz, fällt mir währenddessen auf – ist aber auch nicht so, dass ich davon unbedingt mehr benötigen wurde. Die Apollo ist jedenfalls eine hübsch anzusehende, von Wänden umgrenzte, Bühne, bei der es des Nachts sicher hoch hergeht. Trotzdem kann mich das vertrippte Techno-Set von Sugar & Newa an diesem Abend nicht allzu lange dort halten. Serotonin alle, vermute ich mal. Also mal schauen, was die Rockröhren von Nova Twins auf der EOS Stage nebenan so treiben. Da sind sie also dann doch mal wieder, die Gitarren.
Während des sehr soliden Auftritts des englischen Duos fängt es an zu regnen. Schade, aber ich habe ja heute wahrlich genug erlebt. Also auf zum Zelt. Der Heimweg führt an der Orange Stage vorbei, auf der gerade Afrobeat-Institution Burna Boy den Abschluss gibt. Eigentlich wollte ich diesen Act aufgrund meiner Aversion gegenüber Spielarten dieses Genres weiträumig umgehen, aber als ich mitbekomme, wie das ganze Feld am Grooven ist, kann auch ich mich diesem Virus nicht entziehen. Niemand, wirklich absolut niemand von den zehntausenden Anwesenden steht still. Solche Vibes kennt man eigentlich nur vom Glastonbury. Plötzlich scheint die ganze Welt Reggaeton zu lieben – und egal welche Richtung ich einschlage, es ist unausweichlich: Ich muss mitmachen. Wahnsinnig schön. Und der Regen ist plötzlich egal.