„The New Normal“ hieß das Motto des diesjährigen Primavera-Sound-Festivals in Barcelona. Feierlich hatte der Festivaltrailer angekündigt: Die Gegenwart in 2019 sei nun endlich „femenino“ geworden. Betont unbescheiden und mit stolzgeschwellten Brüsten präsentierte das diesjährige Line Up dementsprechend einen weiblichen Anteil von etwa 50%. Auf allen Bühnen jeder Größe und zu jeder Zeit spielten, sangen und tanzten sich Frauen durch alle Genres. Damit nicht genug: Der neue Normalzustand brachte auch einige weitere angenehme Neuheiten auf das Festivalgelände. Wir haben das Primavera Sound 2019 besucht.
„She’s a queen!“ heißt es häufig in den Kommentaren sozialer Netzwerke über weibliche musikalische Vorbilder. Und dieser musikalischen Königinnen gibt es mittlerweile viele. Erykah Badu, Solange, Lizzo und natürlich Christine And The Queens standen dieses Jahr unter anderem im Line Up des Primavera Sound 2019. Zur Feier des Vormarsches der Frauenrolle, rollte das Festival an den größten Hauptbühnen glatt einen grünen Teppich aus: Rollrasen.
Primavera Auenland
Das klingt erst einmal unspektakulär, doch verwandelte der neue Boden das staubige Schottergelände der Hauptbühnen glatt in ein Auenland. (Und der inoffizielle Spitzname der Hauptbühnen war bis dahin tatsächlich Mordor gewesen.) Noch vor einem Jahr war es extrem anstrengend, hier einen ganzen Festivaltag zu stehen, geschweige denn zu liegen. Angesichts der schönen Stadtkulisse Barcelonas auf der einen und des Meeres auf der anderen Seite, waren die Ex-Mordor-Bühnen prompt die schönsten des Festivals.
Da traf es sich gut, dass es auf den Hauptbühnen teils zu musikalischen Höhepunkten am laufenden Band kam. Carly Rae Jepsen, gefolgt von Janelle Monáe, gefolgt von Miley Cyrus, gefolgt von Tame Impala, gefolgt von Robyn – ein Paket von qualitativer Dauerbeschallung. In einer staubigen Schotterwüste wäre das undenkbar. Auf einer idyllischen Liegewiese? Kein Problem!
Etwas grüner wurde der Boden auch dadurch, dass keine Einwegbecher herumlagen, sondern erstmals eine Art Pfandbecher-System eingeführt wurde. Man kaufte einen Becher für einen Euro und konnte diesen immer wieder auffüllen lassen. Das ist zwar kein herkömmliches Pfandsystem und hygienisch sicherlich auch fragwürdig, aber ein überfälliger Schritt, um Müll zu vermeiden.
Quote ohne Zwang
Musikalisch gab es wie in jedem Jahr zahlreiche Höhepunkte. Wer Quoten aus Festival-Line-Ups herausrechnet, bekommt immer die Befürchtung zu hören, dass die Qualität unter einem ‘Zwang’ leiden könnte. Marta Pallerès, eine Sprecherin des Festivals, stritt einen Zwang allerdings im Vorfeld gegenüber dem Musikexpress ab: Wer heutzutage ein qualitatives Line Up am Puls der Zeit buchen wolle, der komme um einen hohen Frauenanteil gar nicht herum. Sie sollte recht behalten. Die Konzerte waren wie in jedem Jahr außerordentlich gut; das Primavera hat wieder einmal stilsicher und vielfältig gebucht. Ob das nun die Slacker-Singer-Songwriterin Courtney Barnett war, Lokalmatadorin Rosalía oder die sperrige, alteingesessene Indierockband Stereolab, die das erste Mal seit 2009 überhaupt wieder live spielte.
Acts wie Janelle Monáe und Christine & The Queens setzten zudem in ihren Ansagen politische Signale für die queere Szene; Miley Cyrus zeigte sich sexpositiv; Robyn erschuf mit ihrer Hymne „Dancing On My Own“ einen Chor, der wie aus einer Kehle unfreiwillig dem Songtitel widersprach. Das Primavera Sound Festival 2019 versprach einen sicheren Ort zum Feiern für die LGBTQia+ Community. Zum größten Teil konnte das Festival dieses Versprechen einhalten. Es kamen jedoch auch Beschwerden über die Security auf, die die Pride-Symbole der Community anscheinend zum Anlass für homofeindliche Diskriminierung sahen. Es ist natürlich ein absolutes Unding, so etwas am Einlass zuzulassen, vor allem von jenen Leuten, die eigentlich Schutz versprechen. Für manche sei die gesamte Festivalerfahrung durch solche Vorfälle komplett ruiniert worden. Immerhin zeigte das Festival schnelle Einsicht und gelobt Besserung.
Primavera Sound 2019 – The Old Normal
Ja, das Primavera Sound 2019 schrieb Diversity extra groß. Die musikalische Vielfalt ließ allerdings durchaus zu, den dominant wirkenden Pop- und R’n’B-Anteil auszublenden. Die indie Jahre gekommenen Guided by Voices sorgten für Euphorie, die Jazzformation The Comet Is Coming für bahnbrechende Eskalation. Auch ein Jarvis Cocker oder Primal Scream bekamen ansprechende Slots auf großen Bühnen. Nas und Danny Brown machten zudem kurz hintereinander mit altem und neuem Hip-Hop die Ray-Ban-Stage unsicher.
Unglücklich waren einzig einige Entscheidungen im Timetable. Die Pitchfork-Stage ist ohnehin häufig von Soundüberschneidungen geplagt; so sind ruhige Acts wie Tomberlin hier quasi verschenkt. Auch Big Red Machine waren in dem Gewusel des kostenlosen Mittwochs fehlplatziert. FKA twigs drang mit ihrem teils zaghaften, experimentellen R’n’B nur schwer durch die Menschenmassen. Diese sammelten sich nicht unbedingt aus Interesse an dieser Bühne, sondern weil außer der Britin kaum ein Act noch spielte. Kurz zuvor stand Headlinerin Erykah Badu vor einer sehr überschaubaren Menschenmenge. Kleine Abstriche, die in Zukunft verbesserungswürdig sind.
Rolle vorwärts ins Jahr 2020
Frauen eine Hauptrolle zu geben war in 2019 das beste, was dem Primavera passieren konnte. Der heimliche Superstar namens Rollrasen verbesserte die Umstände für gute Konzerte außerdem erheblich und dank des Bechersystems wurde alles noch ein bisschen grüner. Das Primavera Sound Festival machte im Jahr 2019 eine Rolle vorwärts, die dem Festival selbst, aber auch der gesamten Festivallandschaft gut getan hat. Man darf gespannt sein, was das Festival im Jahr 2020 für Überraschungen parat hat.