Das Glastonbury Festival ist ein Phänomen, das sich auf vielen Ebenen nur unzureichend in Worte fassen lässt. So gerne ich Festivalreviews schreibe, so schwer fällt es mir, den Zauber zu definieren, der sich an den längsten Tagen im Jahr auf dieser Farm im Süden Englands regelmäßig entfaltet. Ich versuche es trotzdem einfach mal.
Was macht das Glastonbury Festival nur so besonders? Klar, zunächst einmal ist es eine absolute Institution, wenn es um vielfältiges und zielsicheres Booking geht, das kein Genre außen vor lässt. So kann man sich auf einzigartige Konzerte selten zu sehender Legenden berufen, bei denen das Publikum lauter singt als der Act selbst (Hallo Diana Ross); man kann von Sonnenuntergangs-Gigs erzählen, bei denen die Stimmung so fantastisch ist, dass einem die Freudentränchen in die Augen schießen (Hallo Avalanches und Lorde); oder man führt die schiere Bandbreite des Gesamtprogramms auf, das sich von Mittwochnachmittag bis in den frühen Montagmorgen hinein auf dutzende Spielorte verteilt (Hallo alle anderen 1000+ Acts). Wie viele Bühnen gab es überhaupt in diesem Jahr? 80? 90? Oder wurde die hundert geknackt? Zu viele, mag man beim Blick auf den nicht enden wollenden Timetable denken.
Ja, dieses Festival ist überwältigend – aber im positivsten Sinne. Hunderte von Programmpunkten – von Konzerten, Raves, Talks und Workshops bis hin zu Zirkus, Zauberei und allerlei weiterer denkbaren Bespaßung – erlebt man hier innerhalb von fünf viel zu kurzen Tagen. Theoretisch könnte man die komplette Zeit ziellos übers Gelände stromern und findet garantiert immer etwas, das unterhält, erstaunt, überrascht. Die nicht vorhandene Trennung zwischen Campingplatz und Festivalareal ist ein nicht zu unterschätzender Vorteil im Festival-Alltag und sorgt dafür, dass sich das Gebiet wie eine riesige Parallelwelt anfühlt, die bis in die letzten letzten Ecken erkundet werden will. Sind einmal die Grenzen der Farm passiert, muss man sich zu keinem Zeitpunkt mehr Sorgen über Einlassschleusen, Rucksackgrößen oder potentielle Wurfgeschosse in der Hosentasche machen. Rucksack mit Proviant gefüllt und los geht’s.
Für dieses Erlebnis muss man allerdings eine angemessene Wartezeit einplanen – in diesem Jahr brauchen wir nicht weniger als sechs Stunden, um den Campingplatz zu erreichen. Auch wenn die Securities in den meisten Fällen schnell schalten und sich sichtbar um das Wohlergehen aller kümmern, wird uns klar, dass das Festival nach seiner pandemiebedingten Zwangspause an seine Grenzen stößt. So ungern ich es auch sage – an manchen Ecken hätte es mehr Security benötigt, die die Besucherströme leiten. So bleiben in diesem Jahr den Zuspätkommern einige Auftritte, etwa von Mel C, Jack White oder TLC verwehrt.
Aber gut – es gibt ja noch ein paar dutzend andere Bühnen. Und dort, reicht es meistens, eine halbe Stunde vor Konzertbeginn aufzukreuzen – selbst bei größeren Acts, Kaliber Co-Head. Auch nicht selbstverständlich für eine Veranstaltung mit über 200.000 Besuchern. Das ist zum einen der Verdienst des ausladenden Geländes, aber eben auch der allgemeinen, immens entspannten Stimmung auf dem Festival. Hektisches von Bühne- zu Bühne-Gerenne sieht man hier so gut wie gar nicht, dafür gibt es viel zu viele schöne Dinge entlang der Wege zu sehen.
Es mag paradox klingen, dass ausgerechnet an solch einem scheinbar riesigen, wuseligen, und lautem Ort, an dem jeder theoretisch alles tun und lassen kann, solch eine entspannte Grundstimmung herrscht; aber irgendwie schafft es das Glastonbury. Selbst ich als stets Getriebener bekomme es hin, hier einen Gang zurückzuschalten und die Atmosphäre aufzusaugen, anstatt von Band zu Band zu hetzen. Okay, außer natürlich, es spielt Jack White als Secret Act am Nachmittag.
Im Allgemeinen war das Glastonbury jedoch schon immer mehr als nur die Summe seiner Acts. Geboren als Ort der Zusammenkunft, an dem jeder gemeinsam an einer besseren Welt feilt, hat das Festival es geschafft, dieses hippieske Selbstverständnis in das Hier und Jetzt zu transferieren. Es ist diese partizipative und gleichzeitig unprätentiöse Art von Auseinandersetzung mit den politischen Fragen der Gegenwart, die sich auf und vor den Bühnen vollzieht, die das Glastonbury von so gut wie allen Festivals seiner Größe abhebt und eine willkommene wie nötige Abwechslung vom bloßen musikalischen Geschehen liefert.
So lockt das Festival in seiner fünfzigsten Ausgabe mittlerweile vier Generationen an, vom Gen-Z-Techno-Hedonisten bis hin zum Alt-Hippie. Obwohl deren Vorstellungen von Feierkultur freilich fundamental auseinanderklaffen können, eint alle das Bewusstsein, zusammen eine gute Zeit haben zu wollen. Auf wenigen Festivals habe ich bislang solch eine Verbundenheit erlebt – egal ob frühmorgens im Ravetempel, im Moshpit bei IDLES oder schunkelnd beim Paul McCartney-Konzert. Es ist ein Spirit, nach dem man sich sehnt, sobald man das Gelände verlassen hat; ein Spirit, den man nach dem Festival versucht, nachzujagen. Wenn aber auch nur ein Bruchtteil von diesem Spirit in den grauen Alltag mitgenommen und verbreitet wird, so kann diese Welt zumindest in ganz kleinen Teilen zu einem besseren Ort werden.