Max Richter – Vom Schlafen auf Konzerten

Richter und sein Ensemble bedanken sich bei einem begeisterten Publikum Foto: Robin Jaede

Wenige lebende Komponisten können ein so vielseitig und doch gleichbleibend großartiges Werk aufweisen wie Max Richter. Der britische Musiker mit deutschen Wurzeln gehört zu den einzigartigsten Vertretern der Neoklassik und ist sicherlich maßgeblich dafür verantwortlich, dass klassische Musik und Popmusik näher zueinander gefunden haben.

Ob in seinem Magnus Opum The Blue Notebooks, das dieses Jahr in einer 15-Jahre Sonderedition neu aufgelegt wurde, seinem Soundtrack für die fantastische Serie The Leftovers, dem achtstündigen Projekt Sleep oder seinem Beitrag für den Hollywood Blockbuster Ad Astra mit Brad Pitt in der Hauptrolle. Max Richter beweist auf jedem Terrain seine Genialität.

Nachdem im vergangenen Jahr schon das Publikum der Elbphilharmonie in den Genuss eines der raren Live Auftritte Richters gekommen ist, kehrt er jetzt in Begleitung seines fünfköpfigen Streicherensembles und Sopranistin Grace Davidson in die Hamburger Laeiszhalle zurück. Auf dem Programm stehen Auszüge aus Sleep sowie aus dem Soundtrack der Sci-Fi Serie The Leftovers.

Den Beginn macht das kürzere der beiden Sets. Der Score der Damon Lindelof Serie über das plötzliche Verschwinden von zwei Prozent der Menschheit ist auch ohne seine begleitenden Bilder imposant und mitreißend. An den Höhepunkten, wenn die Streicher sich in den beiden Donna Nobis Pacem Stücken gegenseitig in einen Rausch spielen, erfasst den Raum eine spürbare Spannung. Davidsons Sopran nimmt den gesamten Raum ein, während Richter aus seinem Keyboard einschneidende, dunkle Dissonanzen herausholt. Die entstehende Soundwand ist gleichzeitig energetisch und bedrückend. Nachvollziehbar, dass das Internet die Stücke zum Inbegriff der Traurigkeit erklärt hat und Richter selbst es als eines seiner Lieblingsprojekte preist.

Zum Einschlafen

Max Richtes Flügel wartet auf seinen Einsatz Foto: Robin Jaede

Auch aus ebenjenem acht-stündigen Mammutwerk Sleep, gedacht als Antidot zu einer immer hektischeren, modernen Welt, spielt Richter an diesem Abend weitreichende Auszüge. Dafür wünscht er sich vom Publikum 90 Minuten Ruhe. Dieser Wunsch soll größtenteils in Erfüllung gehen. Sanfte, repetitive, langsame Klavieranschläge bauen Ambient-Klangflächen auf, die den Barocksaal in eine Trance versetzen, die zumindest ein wenig die Zeit zu entschleunigen scheint. Außer der Musik ist kaum ein Laut zu hören, lediglich vereinzelte trockene Kehlen machen sich bemerkbar. Ansonsten nimmt das Publikum diesen Wunsch, der ja schon wie eine Herausforderung klingt, an: anderthalb Stunden Stille, anderthalb Stunden Bewegungslosigkeit, anderthalb Stunden Ruhe.

Vielleicht ist dieses Konzert eines der wenigen, bei denen Einschlafen als ein Kompliment an den Künstler gilt. Schließlich schafft Richter es, dass sich sein Publikum trotz der eindrucksvollen Atmosphäre und der Anwesenheit von über tausend Fremden so weit entspannen kann, dass es für einen Moment den Alltag ausschalten und die Hektik der Welt ausblenden kann. Doch eigentlich fordert Richter sein Publikum viel mehr, als das auf den ersten Blick scheinen mag. Mit den Konventionen typischer Konzerte zu brechen, stellt sowohl das Klassik-Publikum, als auch in Popmusik geschulte Ohren vor Unbekanntes. Die Kontrolle abzugeben, die Außenwelt auszublenden und sich vollends in die Musik fallen zu lassen, ist in einer Zeit der ständigen Aufmerksamkeit eine Mammutaufgabe.

Doch gerade weil Richter sich nicht mit der Berieselung eines Publikums zufrieden gibt, sondern seine Werke gezielt als Bruch mit der Welt, in der sie entstehen, erschafft, bleibt dieser Auftritt im Gedächtnis. Richter und seine Mitmusiker*innen schaffen ein Erlebnis, das über ein Konzert hinausgeht. Einen Denkanstoß über die Rolle von Musik, eine Intervention im Alltäglichen und eine Hommage an den Schlaf.