Reeperbahn Festival 2018: Große Bühne auf kleinen Bühnen

„Dürfte ruhig noch ein paar Tage weitergehen“, schreibt jemand bei einem bekannten Kurznachrichtendienst. Einzige logische Reaktion in Anbetracht des tief im Gemüt verankerten Post-Festival-Blues: Bitte, bitte ja!

Klubhaus St. Pauli beim Reeperbahn Festival (Foto: Stefan Magnussen)
Klubhaus St. Pauli beim Reeperbahn Festival (Foto: Stefan Magnussen)

Gemeint ist das Reeperbahn Festival – diese Veranstaltung, die die Hamburger Partymeile und den Kiez bis hin zum Schanzenviertel einmal jährlich ins Mekka für Entdecker neuer und frischer Musik verwandelt. Mit 45.000 Ticketkäufern wurde dabei 2018 einmal mehr ein neuer Besucherrekord aufgestellt. Unter diesen tummeln sich auch 5.500 Mitglieder der Musikbranche, die neben den vielen Konzerten an Panels, Sessions oder Podiumsdiskussionen teilnehmen und sich über Entwicklungen aus der Branche auf dem Laufenden halten.

Doch ist das Reeperbahn Festival nicht nur Szenetreff, auch beim breiten Publikum wird es immer beliebter und hat sich in unserer Festival Community längst zu einem All-Time-Favourite entwickelt – bei nur wenigen anderen Festivals ist die Forengruppe jedes Jahr aufs Neue so groß. Dabei sind es nicht nur die Locations, die man selbst nach dem fünften Besuch längst nicht alle gesehen hat, nicht nur der Vibe, der sich vom Spielbudenplatz bis Nobistor, vom Park Fiction bis zum Heiligengeistfeld ausbreitet, nicht nur die Musik, die das Reeperbahn Festival immer wieder zu einem neuen Erlebnis macht:was das Festival am meisten auszeichnet, ist die Belohnung des Entdeckergeists.

Noga Erez bei ihrem Auftritt im Grünspan beim Reeperbahn Festival 2018 (Foto: Danilo Rößger)
Noga Erez bei ihrem Auftritt im Grünspan beim Reeperbahn Festival 2018 (Foto: Danilo Rößger)

Zeigen andere Festivals nach einigen Jahren eine gewisse Abnutzungserscheinung, da man als Besucher eine gewisse Routine entwickelt hat, gleicht beim Reeperbahnfestival kein Weg dem anderen. Auf insgesamt knapp 2,5 Quadratkilometern durch das bunte Treiben von St. Pauli fühlt sich der Gang von Location zu Location an wie die spannendste Schnitzeljagd der Welt. Hinter jeder Ecke stößt man auf einen kleinen Laden, in dem gerade ein Showcase stattfindet, oder einen Hochbahnbus, der zur Bühne umfunktioniert wurde.

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Absagen, lange Schlangen & Einlassstopp: Probleme des Reeperbahn Festivals

Dass bei einer so großen Zahl an Locations, Künstler*innen und Veranstaltungen nicht alles rund laufen kann, ist klar. Dass es in diesem Jahr ausgerechnet die Elbphilharmonie trifft, die durch Absagen zweier exklusiver Konzerte betroffen ist, ist da umso ärgerlicher. Für dieses aufwändige Setup kurzfristig einen adäquaten Ersatz finden? Das erscheint uns ein Ding der Unmöglichkeit zu sein. Im Vergleich dazu kurios wirken da die schon fast regelmäßig über die App eintrudelnden Absagen im Moondoo. In dieser Zahl ist das wohl einfach Pech.

In der App – und damit der Vermeldung von Ausfällen – manifestiert sich derweil einer der größeren Kritikpunkte an der diesjährigen Ausgabe des Reeperbahn Festivals: Die Bekanntgabe solcher Änderungen im Timetable häufen sich in diesem Jahr – und nicht alle werden ausreichend kommuniziert. Im Vorfeld verschwinden leider immer wieder Acts vom Line-Up, deren Absage sich dann erst in einer Randnotiz findet. Dabei ist natürlich klar, dass bei der Masse an Bands wie sie das Reeperbahn Festival jedes Jahr zusammen bucht, solche Absagen nicht zu vermeiden sind.

Ärgerlich ist aber, dass diese Ausfälle teilweise erst sehr kurzfristig kommuniziert werden. So erreicht die Nachricht, dass die Französinnen Ibeyi nicht spielen werden,die Besucher erst, als sie schon in der Elbphilharmonie sitzen. Auch beim Konzert von Her an gleicher Stelle kommt die Ankündigung der Absage erst um 14 Uhr des gleichen Tages, obwohl die Band schon Tage vorher sämtliches Rahmenprogramm abgesagt hatte. Die App ist dabei leider wenig hilfreich, die Push-Nachrichten kommen teils zu spät, teils gar nicht. Auch die Warnungen vor Einlass-Stopps bei Konzerten wie Metronomy kommen bisweilen erst, als schon lange nichts mehr geht. Das ist verbesserungswürdig.

Zogen die Massen beim Reeperbahn Festival 2018 in die Große Freiheit 36: Metronomy (Foto: Danilo Rößger)
Zogen die Massen beim Reeperbahn Festival 2018 in die Große Freiheit 36: Metronomy (Foto: Danilo Rößger)

Surprise, surprise: Muse beim Reeperbahn Festival 2018

Darüber hinaus gibt es aber wenig zu beanstanden. Denn über allem schwebt das musikalische Line-Up mit rund 450 Bands und 600 Konzerte spielten – ein Programm, das an Vielfalt kaum zu überbieten ist. Natürlich hätten wir uns solch eine geschmackssichere Auswahl von Überraschungsacts wie im Vorjahr gewünscht: 2017 waren wir mit Kettcar auf dem Lattenplatz, Death From Above im Molotow und Liam Gallagher auf der Warner Music Night dahingehend geradezu gesegnet. Dafür ist den Veranstalter des Reeperbahn Festivals in diesem Jahr dank Warner der Coup gelungen, mit Muse eine internationale Stadionband ins Docks zu holen. Damit verkauft man auch kurzfristig noch Tickets an Fans aus Frankreich, England oder Spanien.

Diese müssen allerdings reichlich Geduld mitbringen: Nachdem bereits um 10 Uhr morgens geduldige Muse-Fans vor dem Docks gesichtet werden, zieht sich die Einlassschlange im Laufe des Abends über etliche Meter. Ähnlich verhält es sich bei den allseits beliebten Metronomy, die in der Großen Freiheit 36 für Euphorie unter all denen sorgen, die es in den Club schaffen, oder dem Geheimtipp International Music, dessen krautig-experimentelle Sounds wir lediglich von der Treppe des Molotows aus genießen können. Bei den schwedischen Post-Punkern Viagra Boys ist die Schlange vor der Prinzenbar sogar kurzzeitig länger als die für Muse.

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Denn auch das gehört zum Reeperbahn Festival: Man braucht gute Nerven, möchte man einen akribisch ausgetüftelten Bandplan in die Tat umsetzen. Doch wie so oft lohnt es sich auch hier, die Planung über den Haufen zu werfen und Locations zu entdecken, in die man sich sonst eher selten verirrt. Denn mal Hand aufs Herz: Wie oft ist man außerhalb des Reeperbahn Festivals etwa im Michel? Dieses Jahr haben wir gleich mehrere gute Gründe, das Hamburger Wahrzeichen von innen zu sehen. Während etwa Okkervil River reduzierte Versionen ihrer Songs durch die heiligen Hallen schallen lassen und vor allem mit dem unverstärkt, rein durch die Stimme des durch den Michel wandernden Will Sheff, vorgetragenen A Song für Gänsehaut sorgen, trägt Konstantin Gropper alias Get Well Soon richtig dick auf: Er arrangiert seine Songs extra für das Reeperbahn Festival komplett um, holt sich dabei Unterstützung von Gastsänger*innen wie Kat Frankie oder Sam Vance Law und lässt seinen Vater die monumentale Kirchenorgel bedienen.

Okkervil River während ihres besonderen Sets im Hamburger Michel beim Reeperbahn Festival 2018 (Foto: Danilo Rößger)
Okkervil River während ihres besonderen Sets im Hamburger Michel beim Reeperbahn Festival 2018 (Foto: Danilo Rößger)

Ebenfalls zu überraschen wissen Friska Viljor, die unter dem Namen Shotgun Sisters einen außergewöhnlichen Gig im Nochtspeicher abliefern. Sänger Joakim Sveningsson gibt dabei einen tiefen Einblick in sein Seelenleben und die vergangenen zwei Jahre, die ihn beinahe an den Abgrund führten. Die eigentlich als sehr tanzbar bekannten Schweden mal mit ganz anderen, wesentlich ruhigeren und dunklen Tönen? Das hinterlässt mächtig Eindruck.

Reeperbahn Festival 2018: Perlen über Perlen

Natürlich lebt das Reeperbahn Festival nicht von diesen großen Namen: Das Entdecken neuer, noch unbekannter Bands steht Jahr für Jahr im Vordergrund. Ob nun The Holy mit ihrem wavigen, an Arcade Fire angelehnten Sound, Altin Gün, die mit ihrem türkischen Psychedelic Folk die Menge zum Kochen bringen, die an frühe Black Keys erinnernden The Blue Stones, das spanische Schredder-Duo Bala, das Modern-Jazz-Trio Mammal Hands, die den Resonanzraum am späten Samstagabend in freudige Trance spielen oder die holländischen Schrammelrocker von Pip Blom – die Liste könnte ewig weitergehen und lässt ein anfängliches Zweifeln über die Line Up-Qualitäten in Staub verpuffen.

Pip Blom: Einer der überzeugendsten Newcomer beim Reeperbahn Festival 2018 (Foto: Danilo Rößger)
Pip Blom: Einer der überzeugendsten Newcomer beim Reeperbahn Festival 2018 (Foto: Danilo Rößger)

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Zudem spielen auf dem Reeperbahn Festival so einige Acts, die wir schon auf früheren Festivals des Jahres abfeiern dürften: Die Parcels legen im Vergleich zum Appletree Garden 2018 noch einmal eine Schippe drauf, Amyl and the Sniffers reißen das Molotow ab und Noga Erez ist mittlerweile ohnehin eine der beliebtesten Künstlerinnen der Festival Community. Hier macht sich zudem eine der großen Stärken des Reeperbahn Festivals bemerkbar: Die Veranstalter unterstützen die Keychange Foundation, die sich dafür einsetzt, dass auf Festivals bis 2022 ein ausgeglichenes Verhältnis zwischen männlichen und weiblichen Künstlern herrscht. Beim Reeperbahn Festival ist das jetzt bereits so – ein Umstand, von dem sich andere Festivals ruhig eine Scheibe abschneiden könnten.

Wissen auf voller Linie zu überzeugen: Parcels beim Reeperbahn Festival 2018 (Foto: Danilo Rößger)
Wissen auf voller Linie zu überzeugen: Parcels beim Reeperbahn Festival 2018 (Foto: Danilo Rößger)

Unter den angesprochenen Acts werden sich sicher auch in diesem Jahr wieder diverse finden, die in ein paar Jahren durch die Decke gegangen sein werden. Und dann wird man erstaunt feststellen, dass eben diese Acts 2018 auf dem Reeperbahn Festival gespielt haben, als man sie selbst noch nicht einmal auf dem Schirm hatte. Bis dahin freuen wir uns bereits auf die Suche nach solchen Perlen im kommenden Jahr. Auf das der Entdeckergeist wieder belohnt werde!

MSo/DRö/RJa