In Mexiko beginnt die Festivalsaison bereits zum Jahreswechsel – und je näher der Februar rückte, desto größer wurde unsere Vorfreude: Endlich wieder Livemusik, endlich wieder Timetable studieren, endlich wieder unbekanntes Festivalterrain erschließen!
Irgendwie ist es ja surreal: In Mexiko finden bereits seit 2021 wieder kulturelle Veranstaltungen, Konzerte, Raves und Festivals statt. Trotz Pandemie. Die offiziellen Inzidenzen sind niedrig, der Alltag geht weitestgehend normal seinen Gang. So gibt es gar kein langes Zögern, als wir erfahren, dass es unweit von Mexiko-Stadt ein ganz entzückendes Festival geben soll: Der Carnaval de Bahidorá lockt nach einer einjährigen Corona-Pause bereits zum zehnten Mal in den Naturpark Las Estacas.
Obwohl der Carnaval der Bahidorá noch immer als wohlgehütetes Geheimnis in der internationalen Festivalszene gilt, hat er sich in den letzten Jahren mit Auftritten von Erykah Badu, Mount Kimbie, Nightmares on Wax oder Pantha du Prince eine treue Fangemeinde innerhalb Mexikos erspielt. Neben Zugpferden wie James Blake, DJ Koze oder Kings of Convenience finden sich im Line Up der diesjährigen Ausgabe erneut dutzende Bands und DJs aus dem lateinamerikanischen Raum.
Bereits am Freitagnachmittag ist einiges los auf dem Gelände von Las Estacas. Beim Einlass durch mehrere Schleusen wird uns deutlich, wie extrem effizient die Orga-Crew arbeitet: Vom Covid-Check über die beinahe übergründliche Taschenkontrolle bis zu unserer Ankunft auf dem Campingplatz läuft hier alles wie geschmiert. Schnell wissen wir, wo unser Zelt zu stehen hat (dank Zelteinweiser), wo wir unser Festivalband mit Geld auffüllen können und wo die Musik spielt.
Zeit für eine erste Orientierung. Im Zuge der Pre-Party am Freitag ist nur ein kleiner Teil des Areals zugänglich, der uns aber schon komplett aus den Latschen haut. Sprachlos spazieren wir über das wunderschöne, von übertrieben hohen Palmen bewachsenen Gelände. Nicht nur die Atmosphäre im wundervoll beleuchteten Naturpark, auch die Maximalbeschallung auf den beiden Bühnen nimmt uns komplett ein. Nach kurzer Gewöhnung an den teilweise arg lauten Cumbia- und Techno-Sound verwandelt sich das Fiepen in den Ohren in wohlklingende Rhythmen, die uns durch die Nacht tragen. Einzig die schwindelerregenden Getränkepreise halten uns davon ab, einen drauf zu machen. So begeben wir uns gegen ein Uhr in unser Zelt, während Resident DJs vom Tresor Berlin noch bis um vier Uhr früh durch die Nacht schreddern.
Am nächsten Morgen lockt uns die Sonne schon zeitig zum nächsten Alkopop-Stand (von denen es hier zahlreiche gibt) und später über die regenbogenfarbene Brücke auf das Haupt-Festivalgelände. Es ist bestückt mit mehreren Pools, noch viel mehr Badestellen, einer Silent Disco, einem Spa, einem tollen Kunsthandwerksmarkt und vier weiteren Bühnen, von denen eine vordergründig mit Vorträgen und Filmen bespielt wird. Und soweit das Auge reicht: Palmen, Palmen, Palmen.
Die Macher des Festivals legen augenscheinlich sehr viel Vertrauen in das Publikum: es gibt keine Spur von Bauzäunen, Absperrungen oder ähnlichen Sicherheitsbarrikaden, die auf deutschen Festivals nur allzu oft die Stimmung killen. Las Estacas bleibt am Festivalwochenende so naturbelassen wie möglich und lädt alle paar Meter zum Baden, Erkunden und Ausruhen an zahlreichen Rückzugsorten ein. Aufgrund des weitläufigen und verwinkelten Geländes kommt es uns zunächst noch sehr angenehm gefüllt vor, während am Nachmittag Musik jedweder Couleur durchs Gebälk schallt.
Doch mit voranschreitender Tageszeit wächst auch die Besucherzahl konstant an. Beim entspannten Auftritt der Kings of Convenience stellen wir uns die Frage, wie viele Leute sich wohl an diesem Fleckchen Erde tummeln mögen. Waren vor zwei Jahren noch rund 10000 Besucher hier, beläuft sich unsere Schätzung für dieses Jahr auf 20000 bis 30000. Fast schon ein Wunder, dass man auf dem Platz so gut wie niemanden englisch reden hört. Die geringe Dichte an internationalem Publikum (laut offiziellen Zahlen von 2020 kommen 95% der Besucher aus Mexiko) nehmen wir als extrem angenehm wahr – aber bringt uns trotzdem ins Grübeln, wie solch ein Spaß für den Durchschnittsmexikaner wohl finanzierbar sein mag.
Als wir im Laufe des Tages endlich eine Ahnung bekommen, wie man von Punkt A nach B kommt, setzt die Dämmerung ein. Die Bademeister haben Feierabend und die Dub- und Reggae-Bühne direkt am Fluss verwandelt sich in eine Chill Out-Ecke. Der Rest des Geländes entfaltet nun mit zahlreichen illuminierten Kunstwerken seine wahre Pracht. Zur selben Zeit sorgt James Blake dafür, dass der Platz vor der Mainstage rappelvoll wird. Auf Platte eher ruhig gehalten, wirkt seine Musik auf der Bühne noch eine ganze Ecke druckvoller. Genau so treibend tönt es im Anschluss auch bei DJ Koze, der sich in Deutschland schon länger einen Namen erspielt hat. Als die Musik zu fortschreitender Stunde zusehends elektronischer durch den Park wummert und die Laser und Stroboskope durch den Dschungel zucken, wandeln wir durch die Nacht, schauen bei jeder Bühne kurz vorbei und lassen uns von surrealistischen Projektionen in andere Welten entführen.
Unser Sonntag ist vergleichsweise kurz, obwohl er von vielen Festivalgängern als der entspannteste bezeichnet wird. Die Dub- und Reggae-Bühne am Fluss hat nun Hochkonjunktur. Wer nicht am Ufer auskatert und versucht, die Snyapsen wieder zurechtzurücken, der plantscht im Wasser herum oder wartet auf den Nachmittagsauftritt vom Afrohouse-Hype der Stunde: Kampire. Wir machen uns nach der einer kleinen Erfrischungssession allerdings wieder auf den Weg nach Mexiko-Stadt und schwelgen noch lange von diesem paradiesischen Ort, am dem das Line Up fast schon zur Nebensache wurde. (Danilo Rößger)